Kurt Dietrich Schmidt: Fragen zur Struktur der Bekennenden Kirche. Erstveröffentlichung 1962. In: Manfred Jacobs (Hrsg.): Kurt Dietrich Schmidt: Gesammelte Aufsätze. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, S. 267-293.
Es geht um mehr als institutionelles Überleben
Noch etwas anderes wird durch diese Eröffnung der 1. Bekenntnissynode in SH deutlich: die BK in SH wollte mehr als nur sich selbst. Es gibt eine alte, oft wiederholte Behauptung, der Kirchenkampf sei ein Selbsterhaltungskampf der Kirche gewesen, die BK habe nur an sich selbst gedacht und nur um ihr institutionelles Überleben gekämpft.
Ja, ums Überleben ging es auch. Je klarer das Ziel der NS- Kirchen- und Religionspolitik wurde, nämlich "das Christentum geistig zu überwinden, organisatorisch verkümmern zu lassen und politisch ohnmächtig zu halten" (Rosenberg), sprich: es verschwinden zu lassen, desto dringender stellte sich die Überlebensfrage, aber der Kirchenkampf darf darauf nicht reduziert werden. Die BK war in ihrem Wesen keine defensive Kirche, sie war offensiv in ihrem Willen, in ihrem Programm, die biblische Botschaft durch Schriften, Veranstaltungen und Unterricht unter die Menschen zu bringen, sie um diese Botschaft zu sammeln und der Irrlehre, der theologischen Entgleisung und Verwirrung argumentativ entgegen zu treten.
Verlauf und Ergebnis der 1. Bekenntnissynode lassen diese Zielsetzung sehr deutlich hervortreten. Pastor Wester wird in seinem großen Eingangsreferat, dem Bericht zur Lage, noch entschiedener als Pastor Halfmann in seiner Analyse und theologischen Deutung der Gegenwart: die DC haben die Kirche zerstört, die gegenwärtige Kirchenleitung (Kirchenregiment sagte man damals) hat keine geistliche und kirchliche Vollmacht, es gibt nur einen Ausweg aus dieser Zerstörung "durch eine Erneuerung der Kirche, die von lebendigen Gemeinden getragen wird und die auch die Führung wieder unter Gottes Wort stellt".
Mit Dank dürfen wir erkennen, sagt P. Wester, dass es Gott in dieser Schmach der Kirchenzerstörung gefallen hat, die deutsche evangelische Christenheit zusammen zu rufen und zusammen zu schließen in einer erneuerten Kirche. Sie hat sich manifestiert in den Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem, Barmen bekämpft die Irrlehre, Dahlem - für Wester sehr wichtig - proklamiert das Selbsthilferecht, das Notrecht, das die Konstituierung einer eigenen BK-Kirchenleitung rechtfertigt, weil die amtlichen Leitungsorgane dem Geist des Neuheidentums erlegen sind und die Kirche faktisch in die Hände der Neuheiden ausgeliefert ist.
Damit erreicht P. Wester einen für sein Verständnis des Kirchenkampfes entscheidenden Punkt: "Die von den DC eingesetzten und von ihrem Geist bestimmten Kirchenregierungen sind gar nicht mehr Kirche zu nennen, wenn man ernst nimmt, was Schrift und Bekenntnis von der Kirche sagen. Es geht deshalb im Kirchenkampf nicht um zwei Gruppen, die miteinander ringen, sondern es geht darum, ob diejenigen, die heute in der klaren Gefolgschaft zu diesem Reichsbischof die Kirche regieren, den Namen 'Evangelische Kirche' noch weiter missbrauchen sollen oder nicht." Im Kirchenkampf geht es also nicht um eine innerkirchliche Fehde, sondern um die Scheidung von legitimer und nicht-legitimer Kirche, von Kirche und Nichtkirche.
Mit diesem Verständnis des Kirchenkampfes wird ein Dissens geschaffen, der die BK SH bis an den Rand der Spaltung führt. Im Leitungsgremium der BK, im Bruderrat, gibt es zwei unterschiedliche, kaum vereinbare Positionen:
- Wir sind eine kirchliche Gruppierung mit hohem Anspruch, aber neben anderen, wir sprengen die Kirche nicht.
- Wir repräsentieren, und zwar allein, die legitime Kirche auf dem Grund von Schrift und Bekenntnis inmitten einer zerstörten Kirche.
P. Wester geht mit dem Bruderrat einen klugen Weg, um in diesem Dissens Einheit, Wahrheitsanspruch und Handlungsfähigkeit der BK in SH zu wahren. Er konstatiert die Notlage und ruft im Gefolge von Dahlem den Weg des Notrechtes und der Selbsthilfe aus: "Auf diesem Grund kirchlichen Handelns fußend wissen wir uns verpflichtet, für die Dauer des Notstandes die Aufgaben der geistlichen Leitung unserer Landeskirche zu übernehmen und erbitten dazu die Zustimmung der Synode. Zu diesen Aufgaben gehört vor allem die Ausbildung der künftigen Pastoren, die Visitation der Pastoren und Gemeinden, die Ordination und die Einweisung in das kirchliche Amt." Das ist das immer wieder genannte Feld, auf das sich der Leitungsanspruch der BK vorrangig bezieht: Wir leiten Kirche, indem wir für eine Ausbildung auf dem Grund von Schrift und Bekenntnis sorgen. Die Ausbildung, die Nachwuchsfrage ist essentiell für eine Bekennende Kirche.
Wester ist überzeugt, dass der Weg des Notrechtes und der Selbsthilfe zu dem zählt, was recht ist vor Gott: "deswegen müssen wir ihn wagen". Ist das ein Weg, der die Volkskirche preisgibt und in die Freikirche führt, also Bruch mit der ganzen staats- und volkskirchlichen Tradition? Wester lässt das offen, er erkennt, dass Einfluss und Autorität der Kirche schwinden, entscheidend ist, dass sie dem von Gott gegebenen Auftrag folgt. Eine solche Kirche wird immer Bestand haben. "Nur eine Bekennende Kirche wird darum in Zukunft einen Platz in unserem Volk haben", sie weiß sich auch "zur Treue gegenüber der Obrigkeit und dem Volk verpflichtet".
Noch stellte sich die Frage nicht, ob und wann diese Treue in Blindheit und Willfährigkeit umschlägt. Damals gilt: "Wir sind keine Oppositionsgruppe gegen den Staat." So wie Luther durch den Kampf für das reine Evangelium dem deutschen Volk den größten Dienst erwiesen hat, so leistet auch die BK durch ihren Kampf für eine echte Kirche dem deutschen Volk den besten Dienst - eine oft wiederholte und variierte Überzeugung der BK und wohl nicht nur Schutzbehauptung.
"Für uns ist Maßstab, was vor Gott recht ist" - diese Devise der BK führt zu massiver Kritik am gegenwärtigen Kirchenregiment. Auch das ist Ausdruck des kirchenleitenden Anspruchs der BK. Wester wird sehr deutlich. "Unserer Kirche fehlt eine echte geistliche Leitung. Wir haben keinen wirklichen Bischof." Der Landesbischof ist nicht rechtmäßig in sein Amt gekommen. Seine Amtsführung zeigt, dass er unsere Landeskirche nicht aufbaut, sondern zerstört, erkennbar an seinem ersten Aufruf, aus dem ich schon zitiert habe: "Die Kirche kann in diesem totalen Staat und in diesem von Treue und tiefer Dankbarkeit getragenen 3. Reich nur leben und wirken, wenn sie Geist von seinem Geist und Wille von seinem Willen ist." Das ist nicht Loyalität, das ist Selbstauslieferung der Kirche an den Staat.
Dagegen Wester: "In Wirklichkeit soll die Kirche Geist vom Geiste Christi sein und Wille von seinem Willen." Auch hier ist wie schon bei Halfmann die 1. These von Barmen vernehmbar, deswegen Absage an den staatlichen Lehrplan, der einen Religionsunterricht verlangt, der "der deutschen Art nicht widerspricht", vom LKA gab es dagegen keinen Protest. 300 Lehrer hatten in Neumünster einem Religionsunterricht zugestimmt, der einen arteigenen deutschen Glauben zum Maßstab erhebt, ohne dass Bischof und Landeskirchenausschuss eingeschritten waren. In Preetz haben Kandidaten das Predigerseminar verlassen, weil sie sich nicht einer bekenntniswidrigen Ausbildung aussetzen wollen, vom Bischof gibt es keine Reaktion. Ein Propst hat eine Konfirmation deutschkirchlicher Richtung ohne Glaubensbekenntnis und Abendmahl durchgeführt, man lässt es durchgehen, weil dieser Praxis "Heimatrecht" in der Landeskirche zugestanden wird. Eine solche Kirche ist eine zerstörte Kirche, auch wenn sie die lutherischen Bekenntnisse formal anerkennt, faktisch hat sie sie preisgegeben.
Wester schließt mit einem Appell an die Pastorenschaft, die Entscheidungssituation zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Er bittet die Amtsbrüder, die BK nicht nur als eine kirchenpolitische Gruppe zu sehen, sondern als die Gemeinschaft, die den "echten Weg der Kirche gehen möchte", also dem folgen will, was recht ist vor Gott. Dafür wirbt er um das Vertrauen der Gemeinden und besonders der Jugend. "Den Gemeinden schulden wir den Dienst der BK", in engster Verbindung mit der BK im Reich und seiner Leitung, der Vorläufigen Kirchenleitung.
Die Proklamation des Notrechtes und des Selbsthilfeweges durch P. Wester wird gestützt durch das Referat von P. Herntrich/ Bethel, der in einer ausführlichen rechtlichen Prüfung zu dem "erschütternden" Ergebnis kommt, dass von den vier Organen der Landeskirche, nämlich: Landessynode - Kirchenleitung - Bischöfen (Schleswig, Holstein und Landessuperintendentur Lauenburg) - Landeskirchenamt, keines mehr ordnungsgemäß vorhanden ist, abgesehen vom Landesuperintendenten für Lauenburg. Und es gibt auch keine Möglichkeit, sie auf verfassungsmäßigem Wege wieder herzustellen. Die schleswig-holsteinische Landeskirche ist rechtlich im Notstand. An die Stelle der zerstörten Verfassung und Rechtsordnung "tritt die Legitimation des Handelns der BK durch Schrift und Bekenntnis und den Willen der Gemeinde. So kann eine rechtlich zerstörte Kirche wieder eine echte kirchliche Gestalt erhalten, die sie zur Ausrichtung ihres Amtes braucht." Die BK rebelliert nicht - wie ihr vorgeworfen wird - sondern bemüht sich um Wiederherstellung des Zerstörten.
P. Lorentzen/Kiel definiert in seinem Vortrag die BK als eine volksmissionarisch aktive Kirche. In der Situation des neuen Heidentums, das das Göttliche in den Tiefen des menschlichen Herzens erleben will, angesichts von Mächten, "die vielleicht positives Christentum sagen, aber das wirkliche biblische Christentum verneinen", und innerhalb einer Kirche, die unfähig ist zur Auseinandersetzung mit glaubens- und bekenntnisfeindlichen Kräften, darf die BK sich nicht aus sich selbst zurückziehen, sondern muss sich einsetzen für das Wort, das der Kirche anvertraut ist und das sie dieser Welt und diesem Volk schuldet, auch wenn es Stimmen gibt, die das Eintreten für die Reinheit der Verkündigung als Staatsfeindschaft diskreditieren.
"Die Volksmission der BK predigt unentwegt: Es ist in keinem anderen Heil. Sie kann so predigen, weil sie nicht menschliche Frömmigkeit wecken will, weil sie vielmehr den ewigen Ratschluss Gottes verkündigen darf." Dafür braucht sie Menschen, die dieses Zeugnis und Bekenntnis zur Sache ihres eigenen Lebens machen. Und diese Menschen sind da, die bereit und fähig sind, "das Netz auszuwerfen", im biblischen Bild. Lorentzen führt die in Hunderte gehenden Volksmissionsversammlungen, Abendveranstaltungen und Volksmissionsfahrten von Vikaren und Studenten ins Feld. Auch hier ein Kernelement der BK: keine "Winkelkirche", auf sich selbst konzentriert, sondern an die Öffentlichkeit, an das Ganze, an das Volk gewiesen, heute sagen wir: an die Gesellschaft.
Karl Ludwig Kohlwage
Aus: Karl Ludwig Kohlwage, Manfred Kamper, Jens-Hinrich Pörksen (Hrsg.): "Was vor Gott recht ist". Kirchenkampf und theologische Grundlegung für den Neuanfang der Kirche in Schleswig-Holstein nach 1945. Dokumentation einer Tagung in Breklum 2015. Zusammengestellt und bearbeitet von Rudolf Hinz und Simeon Schildt in Zusammenarbeit mit Peter Godzik, Johannes Jürgensen und Kurt Triebel, Husum: Matthiesen Verlag 2015, S. 22 ff.