Anna Paulsen (1893-1981)
Anna Paulsen wurde als älteste von vier Schwestern in Hoirup geboren, wo ihr Vater 1888 zum Pastor ernannt worden war. 1896 zog die Familie dann nach der Ernennung des Vaters zum Pastor in Ballum dorthin. Bereits mit elf Jahren wurde Anna Paulsen Halbwaise, denn ihr Vater verstarb nach langem Krankenlager 1904. Die Witwe zog im Frühjahr 1905 mit ihren inzwischen vier Töchtern nach Tondern, wo sie 1907 ein Haus kaufte. Dieses veräußerte sie jedoch 1912 wieder und bezog eine Wohnung in Flensburg.
Anna Paulsen war im deutsch-dänischen Grenzgebiet zweisprachig aufgewachsen: Dänisch war in Ballum die Sprache in Kirche und Religionsunterricht, Deutsch wurde zu Hause und in der Schule gesprochen. Zweisprachigkeit blieb für Anna Paulsen ihr ganzes Leben lang selbstverständlich. Nachdem sie in Tondern die Höhere-Töchter-Schule besucht hatte, wollte sie zunächst Lehrerin werden, entschied sich aber nach dem Abschluss einer einjährigen Lehrerausbildung in Schleswig dazu, die Hochschulreife zu erwerben, um ein Universitätsstudium aufnehmen zu können. So bereitete sie sich, während sie bei ihrer Mutter in Flensburg wohnte, extern auf das Abitur an einem Hamburger Gymnasium vor und bestand 1912 die Prüfungen, hatte sich aber durch Hunger und übermäßige Anstrengung eine Tuberkulose zugezogen, die sie in Davos auskurieren musste. Danach verdiente sie sich drei Jahre lang als Hauslehrerin in einem Pastorenhaushalt ihren Lebensunterhalt.
Im SS 1916 begann sie an der Universität Kiel ein Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte, wechselte dann aber zur Theologie. Sie besuchte vor allem die Lehrveranstaltungen des Systematischen Theologen Erich Schaeder. Zum WS 1917/18 ging sie nach Tübingen, wo sie vor allem Adolf Schlatter, Otto Scheel, Paul Volz und den Historiker Johannes Haller hörte. Im SS 1919 studierte sie in Münster bei Karl Heim. Anschließend kehrte sie nach Kiel zurück, um bei Ernst Sellin (Alttestamentliche Theologie), Hermann Mandel (Syst. Religionswissenschaft) und dem Religionsphilosophen Heinrich Scholz ihr Studium zu beenden. Sie erhielt im WS 1920/21 das Konvikt-Stipendium der Kieler Universität. Im März 1921 legte sie das für weibliche Studierende der Theologie vorgesehene Fakultätsexamen ab.
Unmittelbar nach dem Examen erhielt Anna Paulsen eine Anstellung im "Haus der Morgenländischen Frauenmission" in Berlin und bildete dort Katechetinnen aus. Neben dieser Tätigkeit studierte sie in Berlin bei Adolf Harnack und Reinhold Seeberg und arbeitete an einer Dissertation Die Überwindung des protestantischen Schriftprinzips durch einen historischen Offenbarungsbegriff unter dem Einfluss des württembergischen Biblizismus mit besonderer Betonung seines theosophischen Gedankenkreises, mit der sie im November 1924 an der Kieler Universität zur Lic. theol. promoviert wurde. In ihrer Studie arbeitete Anna Paulsen ein fundiertes Schriftprinzip, die Lösung von der Lehre von der Verbalinspiration der Bibel und einen glaubwürdigen Offenbarungsbegriff heraus. Mit der Erwerbung des theologischen Lizentiates war sie die erste in Kiel promovierte Theologin und eine der ersten promovierten Theologinnen in Deutschland überhaupt. Wegen ihres Lizentiaten-Titels, der erst viele Jahre später in einen Doktor-Titel umgewandelt wurde, war Anna Paulsen bis ins hohe Alter auch als "Lic. Anna" bekannt.
Nach der Promotion wurde Anna Paulsen 1925 zur Mitbegründerin einer Bibelschule an der evangelischen Bildungsstätte "Burckhardthaus" in Berlin-Dahlem, die im Oktober 1926 als "Bibel- und Jugendführerschule/ Seminar für kirchlichen Frauendienst" eröffnet und von Anna Paulsen zusammen mit dem Pastor Wilhelm Thiele bis in die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges geleitet wurde. Sie kam dabei in Kontakt mit bedeutenden Theologen und Pastoren der Bekennenden Kirche wie Paul Tillich, Hermann Schafft, Walter Künneth, Günther Dehn und Otto Riethmüller. Auch war sie mit Elly Heuss-Knapp eng befreundet, der Sozialpolitikerin, Frauenrechtlerin und Ehefrau des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss. Als in Berlin die Bedrohung durch Bombenangriffe zunahm, zog Anna Paulsen nach Schleswig in die Wohnung ihrer Mutter und ihrer Schwester. Dort wohnte sie mit Ausnahme der Jahre 1946 bis 1950, in denen die Wohnung durch die britische Besatzungsmacht beschlagnahmt war, bis kurz vor ihrem Tod.
Von Schleswig aus entwickelte Anna Paulsen nun ihre weitere Tätigkeit am Burckhardthaus, das inzwischen nach Gelnhausen verlegt worden war, und in Hannover als erste Referentin für Frauenfragen bei der EKD. Schon bald nach Kriegsende begründete sie zusammen mit dem Kieler Literaturwissenschaftler Werner Kohlschmidt und dem Schleswiger Pastor Friedrich Heyer in Kiel die "Kirchliche Schule", eine evangelische Akademie, die den Studenten bereits im SS 1945 Vorlesungen anbot, als die Universität noch geschlossen war. Nicht zuletzt auch wegen ihrer Lehrtätigkeit an dieser Schule verlieh 1953 die Theologische Fakultät der Universität Kiel Anna Paulsen zum 60. Geburtstag den Ehrendoktortitel.
Neben der theoretischen und praktischen Vorbereitung von Frauen für den Dienst in der Kirche war Anna Paulsens Hauptarbeitsgebiet in der theologischen Forschung und Lehre die Interpretation der Existenzialphilosophie Søren Kierkegaards. 1955 erschien ihr wohl bedeutendstes Werk, eine wissenschaftliche Biographie Kierkegaards, mit dessen Werken sie schon sehr frühzeitig in Berührung gekommen war. Weitere Bücher über ihn folgten, u. a. 1973 eine Interpretation der Reden Kierkegaards unter dem Titel Menschsein heute. Kurz vor ihrem Tod stellte sie noch das Buch Der Mensch von heute vor der Gottesfrage (1981) fertig, das posthum veröffentlicht wurde. Nach kurzem Krankenlager starb sie 1981 in einem Pflegeheim in Heide.
In Kiel wurde das 1991 bezogene neue Gebäude des Archivs der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche Anna-Paulsen-Haus benannt; den gleichen Namen trägt das 1994 eröffnete Frauenstudien- und Bildungszentrum der EKD in Gelnhausen.
Georg Asmussen
BL-SHL 12, 332; vgl. dazu auch: Dorothee Schlenke, Anna Paulsen (1893-1981). Seelsorgerin in kirchlichen Lehr- und Leitungsämtern, in: Peter Zimmerling (Hrsg.), Evangelische Seelsorgerinnen. Biografische Skizzen, Texte und Programme, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 263-278.